Inmitten von hoch aufragenden Sandsteinfelsen offenbart jeder geduldsame Pinselstrich der Archäologen weitere Geheimnisse der Wüste. Wenn der Sand sich löst und den Blick auf etwas Neues freigibt, entpuppt sich die Neuentdeckung als etwas unvorstellbar Altes. AlUla trägt die Vergangenheit längst vergessener Städte in sich und gibt deren Geheimnisse endlich preis – und die Geschichten, die die Wüste verbarg, können erzählt werden.
Wenn die Ausgrabungssaison ihren Höhepunkt erreicht, arbeiten in AlUla mehr als 230 Archäologen in 12 Teams an Ausgrabungsstätten, die mindestens 7.000 Jahre alt sind. Insgesamt sollen die Untersuchungen zu einem der anspruchsvollsten und umfangreichsten archäologischen Forschungsprojekte der Welt beitragen. Es ist der Traum eines jeden Archäologen, auf einer so riesigen Fläche zu arbeiten, in der es so viele Geheimnisse zu lüften gibt.
Eines dieser Geheimnisse ist eine gigantische, kopflose Statue namens DDN_B_40_S1.. Trotz seines formelhaften Namens schreibt dieser bemerkenswerte Fund ein wichtiges Kapitel in der langen Geschichte von AlUla ganz neu. Er ergänzt und verändert unser Verständnis vom geheimnisvollen Wüstenkönigreich Lihyan und warum dessen Vermächtnis beinahe für alle Zeit verloren gewesen wäre.
Archäologen gehen davon aus, dass das Gebiet, auf dem die Haupstadt Dadan erwuchs, seit der Bronzezeit bevölkert wurde. Dadan (900 bis 600 v. Chr.) galt damals als eines der am weitesten entwickelten Königreiche im Nordwesten Arabiens. Dank der reichlich vorhandenen Wasserquellen und fruchtbaren Böden entfaltete sich das Volk und baute Getreide, Früchte und Datteln auf raffiniert bewässerten Feldern an. Dieser landwirtschaftliche Wohlstand wurde von den Lihyaniten – ein Nachfolgevolk der Dadaniten oder eine Weiterentwicklung derselben Zivilisation – weiter ausgebaut. Sie erzielten Gewinne aus dem Handel mit der Weihrauchstraße, über die voll beladene Karawanen den nahezu unbezahlbaren Weihrauch von seiner einzigen Quelle in Südarabien zu den fernen Tempeln im alten Ägypten und Griechenland brachten. Für die Händler auf dieser beschwerlichen Wüstendurchquerung war Dadan ein wichtiger Zwischenstopp und sie zahlten für ihre Rast.
Mit dem Reichtum gingen imposante Bauprojekte einher. Eins davon war das Große Heiligtum von Dadan, das dem lihyanitischen Gott Dhu Gabbat gewidmet war. Hierzu gehörten mindestens 15 überdimensionale Statuen – darunter auch DDN_B_40_S1. Diese ursprünglich etwa 2,7 Meter hohe Sandsteinstatue zeigt einen Mann mit nacktem Oberkörper, einem Lendenschurz mit Gürtel und einem Armring aus Metall.
DDN_B_40_S1 spiegelt auf künstlerische Weise den wichtigen kulturellen Austausch wider, den die Weihrauchstraße nach Dadan brachte: Die Pose typisch ägyptisch, das Gesicht arabisch und die Kleidung charakteristisch für AlUla. Das Faszinierende jedoch ist das, was fehlt. Alle Statuen wurden in sich zusammengesunken aufgefunden, viele davon ohne Kopf, Hände und Füße. Die Annahme eines Erdbebens als Ursache wich der Vermutung, dass eine derart umfangreiche Zerstörung eher vorsätzlich – von Menschenhand – verursacht worden sein könnte. Was sich durch die Entdeckung von DDN_B_40_S1 bestätigte.
Die verstümmelte Statue wurde innerhalb einer schlecht gebauten Mauer gefunden: Sie war auf die Seite gestürzt und als Baumaterial verwendet worden. Da Statuen damals als Lebewesen galten, sollte DDN_B_40_S1 vermutlich durch das Abtrennen von Kopf, Händen und Füßen seine Macht entzogen werden. Die Wiederverwendung als Baumaterial zeugt davon, dass die Statue nicht länger verehrt oder respektiert wurde.
Die Nabatäer gelangten im ersten Jahrhundert v. Chr. nach AlUla und stiegen zur vorherrschenden Macht auf. Ob es sich dabei um einen friedlichen Übergang durch Handel und Diplomatie oder um eine Eroberung handelte, ist bis heute ungeklärt.
Die Antworten auf diese Fragen liegen möglicherweise im Wüstensand vergraben und warten darauf, entdeckt zu werden. Indem sich heute immer mehr Einwohner von AlUla der Suche nach ihrer Vergangenheit widmen, offenbart sich diese Geschichte stetig ein wenig mehr. Mit jedem Pinselstrich der Archäologen erhalten diese vergessenen Wüstenvölker, ihr Andenken, ihre Vermächtnisse und ihren gebührenden Platz in der Geschichte zurück.