Die Augen von Hinat blicken uns über die Zeit hinweg an; ihre schönen, markanten Züge tragen einen Blick von strenger Melancholie, der die Last der Verantwortung vermuten lässt. Ihr Gesicht ist so vertraut und doch so fremd, wie ein Gesicht nur sein kann - es ist sofort wiedererkennbar, obwohl es mehr als 2.000 Jahre alt ist. Hinat ist das wissenschaftlich modellierte Abbild einer nabatäischen Frau, die in einem der berühmten antiken Gräber von Hegra begraben wurde. Wir können zwar nur Bruchstücke von Hinats Geschichte zusammensetzen, aber was Hegra uns über die nabatäische Gesellschaft verrät, deutet darauf hin, dass sie großen Respekt und Unabhängigkeit besaß.
Die Nabatäer waren eine der letzten vorislamischen Kulturvölker, die im Oasental von AlUla ihre Spuren hinterlassen haben, einer Gegend mit einem Kulturerbe, das sich über 7.000 Jahre kontinuierlicher menschlicher Besiedlung erstreckt. Die neolithischen Völker hinterließen rätselhafte Felszeichnungen und errichteten monumentale Bauwerke, die noch heute Verwunderung und Faszination auslösen. Die aufeinanderfolgenden Königreiche Dadan und Lihyan machten die Oase für die Landwirtschaft nutzbar und es entstand die blühende Stadt Dadan, die den Archäologen mehr und mehr ihre Geschichte verrät. Etwa im 1. Jahrhundert v. Chr. zog AlUla die Aufmerksamkeit der Nabatäer auf sich.
Die Nabatäer waren ein Nomadenvolk, das Petra im heutigen Jordanien errichtete. Sie waren geschickte Wasserbewirtschafter und meisterhafte Händler, die ihre Fähigkeiten kombinierten, um die Weihrauchroute durch die arabische Wüste zu kontrollieren. Sie kontrollierten unter anderem den Transport des fast unbezahlbaren Weihrauchs von Südarabien zum Mittelmeer. Es entstand eine lebendige neue Stadt in Hegra.
Hier befand sich Hinat, ein blühendes Handels- und Kulturzentrum, dessen enormer Reichtum noch heute deutlich sichtbar ist. Die Menschen in Petra und Hegra waren kulturell miteinander verbunden, was sich am deutlichsten in den charakteristischen Sandsteingräbern zeigt. Die fein verzierten Fassaden spiegeln den Reichtum und die Handwerkskunst der Nabatäer wider. Ihr Design und ihre Details sind eine Mischung aus persischen, griechischen, ägyptischen und römischen Einflüssen, die mit dem internationalen Handel einhergingen.
"Das ist das Grab, das Hinat, die Tochter von Wahbu, für sich selbst und ihre Kinder und Nachkommen errichtet hat", steht auf der Inschrift über dem Mausoleum. Dort wurden 78 Individuen entdeckt, darunter auch das Modell, das Hinat darstellen soll. Aber die Inschrift gibt uns mehr als nur einen Namen: Sie verrät uns, dass Frauen im nabatäischen Hegra das Recht hatten, zu erben, zu besitzen und über Grundstücke zu verfügen - und das Geld, um ihre monumentalen Gräber in Auftrag zu geben.
Diese Einblicke tragen zu unserem wachsenden Verständnis der nabatäischen Gesellschaft bei: die herausragende Stellung weiblicher Götter in ihrem Götterhimmel, die Abbildung von Frauen auf ihren Münzen und der Nachweis, dass Frauen lesen und schreiben konnten und ermutigt wurden, einen Beruf zu erlernen. Es scheint, dass die nabatäischen Frauen - von Prinzessinnen über Priesterinnen bis hin zu Geschäftsfrauen - eine rechtliche und finanzielle Unabhängigkeit genossen, die für die damalige Zeit sehr ungewöhnlich war.
Aber das Vermächtnis der starken, unabhängigen Frauen lebt im modernen Hegra weiter. Heute wird die Geschichte von Hinat von speziell ausgebildeten Geschichtenerzählern, den Rawis, zum Leben erweckt. Mit ihren Kenntnissen der Weltsprachen und der sich ständig weiterentwickelnden Geschichte von Hegra bringen sie die Geschichten des alten AlUla zum Leben. Sie sind stolz auf ihren Beruf und stolz auf AlUla: Wie das Gesicht von Hinat erwecken ihre Worte die Vergangenheit zum Leben.